Donnerstag, Februar 19

Von Äpfeln und Birnen

Hausübungen werden hier so regelmäßig und in solchen Umfang vergeben, dass es unmöglich ist diese immer genau zu korrigieren. Es ist gängige Praxis, dies nur gelegentlich und auszugsweise zu tun. Die zweite Hausübung der Klasse in Wahrscheinlichkeitstheorie korrigiere ich also ausnahmsweise genauer, einfach um zu wissen, wo die einzelnen Studierenden stehen. Wer bei der Hausübung zeigt, dass er sich selbständig mit den Problemen auseinandergesetzt hat, bekommt eine positive Beurteilung, unabhängig davon, ob die Ergebnisse richtig sind.

Studierende, die nicht regelmäßig mitlernen, bekommen oft negative Noten. Aber ich lege den Schwierigkeitsgrad einer Lehrveranstaltung immer so an, dass auch die schwächsten Studierenden eine positive Note bekommen können, sofern sie das ganze Semester hindurch hart arbeiten. Was den Glauben an die Lernfähigkeit des Menschen betrifft, bin unverbesserlicher Optimist.

Nach der ersten kleinen Prüfung lade ich die schwächeren Studierenden in meine Sprechstunde um nach einem Gespräch den Zug wieder aufs richtige Gleis zu setzen. Eine asiatische Studentin hat sich mit großem Eifer über die Hausübung gemacht und dabei, so wie bei der Prüfung, seitenweise nur Unsinn fabriziert. In der Sprechstunde kläre ich erst ab, was sie studiert, ob sie schon jemals mathematische Kurse absolviert hat, ob sie berufstätig ist und wie weit sie Probleme mit der englischen Sprache hat. Nicht berufstätig, Calculus Eins positiv absolviert, Englisch ausreichend. Soweit, so gut.

Also machen wir uns an die Hausübungsbeispiele. Wenn ein roter und ein blauer Würfel geworfen werden, wieviele mögliche Resultate gibt es? Wenn der rote auf der Eins landet, gibt es für den blauen sechs Möglichkeiten. Wenn rote auf der Zwei landet, gibt es für den blauen wieder sechs Möglichkeiten. Also haben wir schon 12. Am Ende kommen wie auf insgesamt sechs mal sechs, also 36 Möglichkeiten.

In einem Geschäft kann man drei Sorten Obst, nämlich Äpfel, Birnen und Melonen kaufen, und zwar jeweils in den vier Farben gelb, grün, braun und rot. Das sind vier verschiedene Apfelsorten, vier verschiedenen Birnen- und vier verschiedene Melonensorten. Also insgesamt drei mal vier, das heißt 12 verschiedene Sorten.

Und jetzt gehen wir in ein Kaffeehaus, wo fünf verschiedene Getränketypen verkauft werden, und zwar in kleinen, mittleren und großen großen Bechern. "Wieviele verschiedene Getränke sind das?" richtet sich diesmal die Frage an die Studentin. "Acht." - "Warum acht??" - Sie blickt mich stolz und zuversichtlich an: "Weil fünf plus drei ist acht!" Ich flehe sie an: "Aber vorhin haben wir das doch anders gerechnet." - lange Pause - "Ich weiß nicht, ich verstehe das nicht. Ich versteh das einfach nicht." Schockiert starre ich sie an. Hunderte Gedanken rasen gleichzeitig durch meinen Kopf: "Du darfst niemals ungeduldig werden - du darfst niemals einem Studierenden sagen, er soll etwas anderes studieren - du darfst niemals einem Studierenden sagen, dass er dumm ist - vielleicht ist sie nur so nervös? - Nein, das kann nicht sein, sie hat ja bei der Hausübung auch nichts verstanden. - Hilfe! Hilfe! Was soll ich jetzt machen? Am Ende des Semesters muss ich den zentralen Grenzwertsatz unterrichten. Wie soll das jemals funktionieren? Auch wenn sie noch so fleißig ist..." Ich würge meine Gedanken ab, versuche meinen Schock zu verbergen, setze einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck auf und sage ganz ruhig zu ihr, so als wäre nichts gewesen: "Also. Wir haben fünf Getränketypen und drei Bechergrößen: small, medium und large. Wieviele verschiedene small Drinks kann ich bestellen." - "Fünf." - "Richtig." - "Und wieviele in medium?" - "Auch fünf." - "Richig." - "Das sind dann zusammen?" - "Zehn." - "Richig." - "Wenn das jetzt schon zehn sind, dann können es aber insgesamt nicht acht sein." Das gibt ihr zu denken. "Dann sind es insgesamt fünfzehn." - "Sehr gut! Und wie haben Sie das berechnet?" - "Fünf plus fünf plus fünf." - "Sehr gut! Also bei drei Bechergrößen und fünf Getränketypen gibt es drei mal fünf Möglichkeiten". - "Ich denke, ich habs jetzt." Zur Sicherheit überprüfe ich das noch einmal anhand eines anderen Beispiels, und siehe da, sie hat es verstanden.

Mit auf den Weg nach Hause gebe ich ihr die dringende Anordnung, sie möge sich auf den nächsten Test zusammen mit anderen StudentInnen vorbereiten und sich die relevanten Beispiele erklären lassen. Ein Kollege, bei dem ich mich nach diesem Erlebnis am Nachmittag ausweine, meint, es könne ja einfach daran liegen, dass die Studentin noch nie mit so eine Art von Mathematik konfrontiert wurde, bei der es um Texte und Verständnis geht. Da mag er Recht haben. In manchen Schulen bedeutet Mathematik hauptsächlich inhaltsloses Manipulieren von Zahlen- und Buchstabenausdrücken. Diese Probleme kenne ich auch Österreich.

In der gleichen Klasse sitzt aber auch ein völlig gelangweilter Student, der gelegentlich Fragen zu nicht-Lebesgue-messbaren Mengen stellt. Ich erinnere mich an die anfänglich Warnung eines Kollegen, dass die Voraussetzungen der StudentInnen am College sehr unterschiedlich sind, wie wahr.

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