Freitag, März 13

Schnittlauch

Richtung Norden gibt es ein paar kleiner Parks entlang der Edgecombe Avenue. Da laufe ich öfters bergauf bis zur Highbridge, über die die erste Wasserleitung nach Manhatten führt. Dort steht ein schmaler, alter hoher Turm am Gipfel des Hügels. Mit dem Cental Park kann man das nicht vergleichen, aber es ist grün und am Ende hat man eine Aussicht - über Harlem River und Autobahnen hinüber in die Bronx. Als erste wachsen hier nicht die Schneeglöckchen, sondern Schnittlauch, überall wächst hier Schnittlauch!

Samstag, März 7

Schneeglöckchen

Gestern ist Jörg in New York angekommen, er bleibt eine Woche. Wir werden zusammen eine Konferenz besuchen. Und Jörg hat den Frühling mitgebracht. Es hat angenehme 20 Grad und die Sonne scheint. Beim Spaziergung im Central Park trage ich Pullover und Jacke in der Hand, ein T-Shirt ist heute ausreichend. Nachdem es vor wenigen Tagen noch stark geschneit hat, liegen noch immer Schneehaufen am Wegrand, was bei diesen Temperaturen etwas seltsam erscheint. Und da sind sie endlich, die ersten Schneeglöckchen.

Freitag, März 6

Das Sockenmonster

Das Sockenmonster ist nicht nur in Europa heimisch. In den USA wütet es noch schlimmer als zu Hause. Obwohl ich nur die wenige Kleidung zu bewachen habe, die in meine zwei Koffer passt, hat es mir nach wenigen Wochen schon drei Socken weggefressen. Sagenhafte drei veschiedene einzelne Socken liegen nun vor mir, die ich bestenfalls noch als Putzlumpen verwenden kann.

Dienstag, März 3

216/123

Aus einer Prüfungsnachbesprechung zur kombinatorischen Wahrscheinlichkeitsrechnung: In einer Kiste liegen drei Äpfel, vier Bananen und fünf Orangen. Eine Frucht wird zufällig ausgewählt und dann wieder zurückgelegt. Alle Früchte werden mit der gleichen Wahrscheinlichkeit gezogen. Dies wiederholen wir ein zweites und drittes mal. Wie groß ist die Wahscheinlichkeit, dass wir drei mal die selbe Art von Frucht gewählt haben. Das korrekte Ergebnis ist (33+43+53)/123=216/123.

Die meisten Studierenden haben dies auch in der Prüfung geschafft. Dann war aber Endstation. An der ohnehin sinnlosen Rechnung 123=1728 sind ein weiteres Drittel gescheitert. Und den Bruch 216/1728 in gekürzter Form anzugeben haben am Ende genau 2 von 36 Studierenden geschafft. Allerdings nur nach zeitverschwenderischen Rechnungen.

Nachdem die Zahl 12 in seiner Primfaktorzerlegung 2⋅2⋅3 ist und 216 sich einfach schrittweise zerlegen lässt in 2⋅2⋅2⋅3⋅3⋅3, erhalten wir ohne weitere Mühe
216/123=2⋅2⋅2⋅3⋅3⋅3/(2⋅2⋅3⋅2⋅2⋅3⋅2⋅2⋅3). Diesen Bruch kann man sofort kürzen und das Ergebins ist die Wahrscheinlichkeit 1/(2⋅2⋅2)=1/8. Das heißt, im Schnitt ziehen wir bei einem von acht Versuchen drei verschiedene Früchte aus der Kiste.

Diese Botschaft schlägt ein wie ein Bombe. Mit großen Augen starren die Studierenden an die Tafel. So viel Magie auf einmal hat man im Zeitalter der Taschenrechner noch nicht gesehen. Selbst der Student, der gelegentlich Fragen zu nicht-Lebesgue-messbaren Mengen stellt, ist sichtlich angetan davon, wie man hier ohne Rechenaufwand zum richtigen Ergebnis kommt. Wenn ich nur mit bedingten Wahrscheinlichkeiten und Binomialverteilungen ähnlich viel Eindruck machen könnte wie mit dem Kürzen von Brüchen.

Die Dame, die noch vor ein paar Tagen Probleme mit Äpfeln, Birnen und der Anzahl von Getränken im Kaffeehaus gehabt hat, erreicht diesmal 13 von 14 Punkten. Und so zeigt sich wieder einmal, dass wir alle das Potential dazu haben, erfolgreich zu lernen und zu verstehen, wenn wir nur entsprechen hart arbeiten. Eine Botschaft, die in den USA populärer ist als in Österreich.

Montag, März 2

Winter

Es in der Tat viel geschneit. Manche Autos sind am Straßenrand vollkommen zugeschneit, Busse fahren mit Schneeketten, von Ausnahmezustand kann aber nicht die Rede sein.

Die Schneeglöckchen, die ich im Central Park vermute, wissen, warum sie auch nach ein paar Tagen Sonnenschein und angenehmen Plusgraden noch unter der Erde bleiben. Aber die Tage werden immer länger und länger.

Am Wochenende musste ich wieder arbeiten. Und jetzt Montag früh stapfe ich mit stapelweise korrigierten Prüfungen und Hausübungen im Rucksack zum College. Wie immer wird exzessiv Salz gestreut, vor allem am Gehsteig. Der Umwelt kann es vermutlich egal sein, das landet alles gleich wieder im Meer. Für die Schuhe der Menschen ist das weniger gut.

Sonntag, März 1

Schnee?

Gerade überrascht mich ein Email: "If you are wondering whether classes will be cancelled (and it's been a long time since CCNY has done so), the most reliable way to find out is to call the main campus phone number...". Angeblich werden wir heute Nacht eingeschneit. Was soll ich da meinen Freunden in Österreich erzählen, wo gerade Lawinenwarnstufe 4 ausgerufen ist und reguläre Skipisten gesperrt werden? Warum kann man von den Menschen hier nicht verlangen, dass sie einfach mit der U-Bahn aufs College kommen? Es ist doch egal wieviel Neuschnee es über Nacht gibt, kein Mensch braucht in New York ein Auto.

Donnerstag, Februar 19

Von Äpfeln und Birnen

Hausübungen werden hier so regelmäßig und in solchen Umfang vergeben, dass es unmöglich ist diese immer genau zu korrigieren. Es ist gängige Praxis, dies nur gelegentlich und auszugsweise zu tun. Die zweite Hausübung der Klasse in Wahrscheinlichkeitstheorie korrigiere ich also ausnahmsweise genauer, einfach um zu wissen, wo die einzelnen Studierenden stehen. Wer bei der Hausübung zeigt, dass er sich selbständig mit den Problemen auseinandergesetzt hat, bekommt eine positive Beurteilung, unabhängig davon, ob die Ergebnisse richtig sind.

Studierende, die nicht regelmäßig mitlernen, bekommen oft negative Noten. Aber ich lege den Schwierigkeitsgrad einer Lehrveranstaltung immer so an, dass auch die schwächsten Studierenden eine positive Note bekommen können, sofern sie das ganze Semester hindurch hart arbeiten. Was den Glauben an die Lernfähigkeit des Menschen betrifft, bin unverbesserlicher Optimist.

Nach der ersten kleinen Prüfung lade ich die schwächeren Studierenden in meine Sprechstunde um nach einem Gespräch den Zug wieder aufs richtige Gleis zu setzen. Eine asiatische Studentin hat sich mit großem Eifer über die Hausübung gemacht und dabei, so wie bei der Prüfung, seitenweise nur Unsinn fabriziert. In der Sprechstunde kläre ich erst ab, was sie studiert, ob sie schon jemals mathematische Kurse absolviert hat, ob sie berufstätig ist und wie weit sie Probleme mit der englischen Sprache hat. Nicht berufstätig, Calculus Eins positiv absolviert, Englisch ausreichend. Soweit, so gut.

Also machen wir uns an die Hausübungsbeispiele. Wenn ein roter und ein blauer Würfel geworfen werden, wieviele mögliche Resultate gibt es? Wenn der rote auf der Eins landet, gibt es für den blauen sechs Möglichkeiten. Wenn rote auf der Zwei landet, gibt es für den blauen wieder sechs Möglichkeiten. Also haben wir schon 12. Am Ende kommen wie auf insgesamt sechs mal sechs, also 36 Möglichkeiten.

In einem Geschäft kann man drei Sorten Obst, nämlich Äpfel, Birnen und Melonen kaufen, und zwar jeweils in den vier Farben gelb, grün, braun und rot. Das sind vier verschiedene Apfelsorten, vier verschiedenen Birnen- und vier verschiedene Melonensorten. Also insgesamt drei mal vier, das heißt 12 verschiedene Sorten.

Und jetzt gehen wir in ein Kaffeehaus, wo fünf verschiedene Getränketypen verkauft werden, und zwar in kleinen, mittleren und großen großen Bechern. "Wieviele verschiedene Getränke sind das?" richtet sich diesmal die Frage an die Studentin. "Acht." - "Warum acht??" - Sie blickt mich stolz und zuversichtlich an: "Weil fünf plus drei ist acht!" Ich flehe sie an: "Aber vorhin haben wir das doch anders gerechnet." - lange Pause - "Ich weiß nicht, ich verstehe das nicht. Ich versteh das einfach nicht." Schockiert starre ich sie an. Hunderte Gedanken rasen gleichzeitig durch meinen Kopf: "Du darfst niemals ungeduldig werden - du darfst niemals einem Studierenden sagen, er soll etwas anderes studieren - du darfst niemals einem Studierenden sagen, dass er dumm ist - vielleicht ist sie nur so nervös? - Nein, das kann nicht sein, sie hat ja bei der Hausübung auch nichts verstanden. - Hilfe! Hilfe! Was soll ich jetzt machen? Am Ende des Semesters muss ich den zentralen Grenzwertsatz unterrichten. Wie soll das jemals funktionieren? Auch wenn sie noch so fleißig ist..." Ich würge meine Gedanken ab, versuche meinen Schock zu verbergen, setze einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck auf und sage ganz ruhig zu ihr, so als wäre nichts gewesen: "Also. Wir haben fünf Getränketypen und drei Bechergrößen: small, medium und large. Wieviele verschiedene small Drinks kann ich bestellen." - "Fünf." - "Richtig." - "Und wieviele in medium?" - "Auch fünf." - "Richig." - "Das sind dann zusammen?" - "Zehn." - "Richig." - "Wenn das jetzt schon zehn sind, dann können es aber insgesamt nicht acht sein." Das gibt ihr zu denken. "Dann sind es insgesamt fünfzehn." - "Sehr gut! Und wie haben Sie das berechnet?" - "Fünf plus fünf plus fünf." - "Sehr gut! Also bei drei Bechergrößen und fünf Getränketypen gibt es drei mal fünf Möglichkeiten". - "Ich denke, ich habs jetzt." Zur Sicherheit überprüfe ich das noch einmal anhand eines anderen Beispiels, und siehe da, sie hat es verstanden.

Mit auf den Weg nach Hause gebe ich ihr die dringende Anordnung, sie möge sich auf den nächsten Test zusammen mit anderen StudentInnen vorbereiten und sich die relevanten Beispiele erklären lassen. Ein Kollege, bei dem ich mich nach diesem Erlebnis am Nachmittag ausweine, meint, es könne ja einfach daran liegen, dass die Studentin noch nie mit so eine Art von Mathematik konfrontiert wurde, bei der es um Texte und Verständnis geht. Da mag er Recht haben. In manchen Schulen bedeutet Mathematik hauptsächlich inhaltsloses Manipulieren von Zahlen- und Buchstabenausdrücken. Diese Probleme kenne ich auch Österreich.

In der gleichen Klasse sitzt aber auch ein völlig gelangweilter Student, der gelegentlich Fragen zu nicht-Lebesgue-messbaren Mengen stellt. Ich erinnere mich an die anfänglich Warnung eines Kollegen, dass die Voraussetzungen der StudentInnen am College sehr unterschiedlich sind, wie wahr.